Welche Arbeitsplätze braucht das Land?
Interview mit Frau Professor Dr. Heide Inhetveen, Sulzbürg
Red.: Frau Dr. Inhetveen, bei der von der Gemeinde geforderten Ausweisung von Gewerbe- und Industriegebieten spielt das Argument "Wir brauchen neue Arbeitsplätze" eine zentrale Rolle. Sind Sie und die Befürworter des Bürgerbegehrens denn gegen neue Arbeitsplätze für Mühlhausen?
HI: Keinesfalls! Wir haben uns stets für die Ansiedlung von Betrieben mit einem qualifizierten Arbeitsplatzangebot an geeigneten Orten ausgesprochen, also dort, wo nicht intakte Naherholungsgebiete und touristisch attraktive Landschaften geopfert werden. Das wird auch das Thema des Bürgerentscheids am 25. September sein.
Red.: Was verstehen Sie unter qualifizierten Arbeitsplätzen?
HI: Arbeitsplatz ist nicht gleich Arbeitsplatz. Wir wissen aus vielen Unter-suchungen, dass es vor allem junge Menschen sind, die vom Land abwandern. Sie wandern ab, weil höher oder auch hochqualifizierte Arbeitsplätze fehlen. Jugendliche haben heutzutage oft gute und sehr vielseitige Berufsausbildungen und können ihre Berufswünsche nicht mehr vor Ort realisieren. Das betrifft insbesondere junge Frauen, die ja inzwischen im Durchschnitt bessere Bildungsabschlüsse haben als ihre männlichen Kollegen. Hier wirkt sich der Mangel an guten qualifizierten Arbeitsplätzen besonders gravierend aus. Auch den Frauen, die nach der Familienphase auf dem lokalen Arbeitsmarkt Fuß fassen wollen, gelingt das im ländlichen Raum nur schwer. Studien belegen, dass sie häufiger als junge Männer die ländlichen Regionen verlassen. "Damen verlassen das Land", wie es kürzlich in der Tagespresse hieß. Die Abwanderung gerade dieser Bevölkerungsgruppe hat für die demografische und soziale Entwicklung einer Gemeinde äußerst negative Folgen, da sie den Bestand an jungen Familien betrifft.
Red.: Die Betriebe, die nach Mühlhausen kommen wollen, sind teilweise bekannte städtische Unternehmen, die durchaus auch qualifizierte Arbeitsplätze anbieten könnten. Warum also Ihre kritische Haltung?
HI: Sicherlich handelt es sich unter anderen um renommierte Betriebe. Die Frage ist nur: Welche Bereiche sollten aus den Mutterbetrieben nach Mühlhausen ausgelagert werden? Zunächst sind es offenbar nur Lagerhallen mit wenigen und nicht unbedingt höher qualifizerten Arbeitsplätzen, aber einem immensen Flächenverbrauch. Arbeitskräfte werden voraussichtlich zunächst aus der schon vorhandenen Belegschaft rekrutiert. Für Frauen springen gute Arbeitsplätze für Schichtbetrieb in Lagerhallen wohl kaum heraus.
Red: Lagerhallen sind aber doch vermutlich nur ein Anfang, dem dann - vielleicht 2025 - produktive Betriebszweige nachfolgen werden.
HI: Nun gut, das ist durchaus möglich, aber keinesfalls sicher. Die wirtschaftliche Entwicklung einer Branche ist schwer zu prognostizieren, sie hängt sehr von der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung im globalen Rahmen ab. Das zeigt auch die dramatische Entwicklung anderer einst blühender Industrie- und Gewerbebetriebe in unserer Region. Ländliche Betriebe - lange Zeit von der Ländlichen Strukturpolitik als "verlängerte Werkbänke" gefördert, haben sich seit den 1970er Jahren als relativ instabil und krisenanfällig erwiesen. Das wissen auch die ehemaligen Arbeiterinnen von Betrieben in Mühlhausen, die noch heute um den Verlust ihrer Arbeitsplätze trauern.
Red.: Ergibt sich daraus dann nicht doch ein Argument für neue Industriebetriebe auf dem Land?
HI: Ich plädiere für eine differenzierte Betrachtungsweise. Es ist bei Betrieben, die sich ansiedeln wollen oder sollen, genau zu prüfen, wie deren Beschäftigungsstruktur ist. Bieten sie langfristig neue Arbeitsplätze für Arbeitssuchende an oder handelt es sich um hochautomatisierte Fertigungsprozesse? Wie qualifiziert ist das Arbeitsplatzangebot? Können auch gut ausgebildete Frauen einen Arbeitsplatz finden? Wie sieht es in Mühlhausen mit dem viel beklagten Facharbeitermangel aus? Im Juni waren hier ohnehin nur etwa 50 Personen als arbeitslos gemeldet, dem standen gut 20 gemeldete Stellenangebote vor Ort gegenüber, alles in allem also eine "vollbeschäftigte" Gemeinde. Auch der Auspendlerüberschuss ist zum einen nicht besonders hoch, zum anderen eben gerade dem Fehlen von hochqualifizierten Arbeitsplätzen geschuldet.
Red.: Welche Strategie würden Sie als ehemalige Professorin für ländliche Soziologie der Gemeinde Mühlhausen empfehlen?
HI: Insgesamt möchte ich vor allem für ein Gemeindeentwicklungskonzept argumentieren. Ein ganzheitliches Entwicklungskonzept, das Lebens-, Wohn- und Arbeitsqualität heute und in Zukunft im Blick hat, fehlt uns in Mühlhausen. Darin kann es nicht nur um den Ausbau eines Industrie-standortes mit konjunkturabhängigen Zweigbetrieben und Einzelhandels-Großprojekten gehen. Vielmehr sollten vorhandene und neue lokale Wirtschaftsbranchen zu einer tragfähigen Gewerbestruktur ausgebaut werden. Klein- und Mittelbetriebe sollten neue Impulse erhalten, Pflegeeinrichtungen gefördert werden. Das Beschäftigungsangebot sollte den Berufswünschen und Kompetenzen junger Menschen entsprechen, um deren Abwanderung entgegenzuwirken. Insbesondere flächenintensive Industrieansiedlungen sind sorgfältig unter die Lupe zu nehmen, denn sie können die vorhandenen Wohn- und Erholungsqualitäten des Ortes zerstören. Mühlhausens Natur- und Kulturdenkmäler ziehen derzeit auch (noch) viele Touristen an. Familien sind nach Mühlhausen gezogen, um im Grünen zu wohnen und intakte, unzersiedelte Landschaften zu genießen. Sie nehmen dafür das Pendeln sogar bewusst in Kauf. Sie würden aber eine Verbesserung unserer ländlichen Infrastruktur (Anruf- oder Bürgerbusse) und des Dienstleistungsbereiches (Nachbarschaftsläden, Telekommunikationszentren) sehr begrüßen. In einem ganzheitlichen und nachhaltigen Gemeindeentwicklungskonzept werden auch Bildung und Kultur einen hohen Stellenwert haben.
Red.: Zeichnen Sie da nicht ein utopisches Konzept, das sich kaum realisieren lässt?
HI: Eine weitsichtige Vision zu haben, ist für kommunale Entscheidungen nicht nur hilfreich, sondern unentbehrlich. Ich bin überzeugt, dass auch die Bürger und Bürgerinnen von Mühlhausen vielfältige Facetten zur Gestaltung dieser Vision beitragen können. Es gibt Gemeinden - selbst in Bayern -, in denen unter Beteiligung der Bevölkerung ganzheitlich und nachhaltig für die Zukunft gearbeitet wird. Ich glaube allerdings auch, dass wir künftig bei der Umsetzung solcher Visionen den engen Gemeinde-horizont überschreiten und auch mit Nachbargemeinden kooperieren müssen. Wir brauchen eine interkommunale Entwicklung - aber das ist ein neues Thema!
Red.:In der Tat! Vielen Dank!